«Die politische Bildung kommt mir im gesamten Schulsystem zu kurz.»
Wie ging es bei Ihnen nach der Maturität weiter?
Nach dem Abschluss wollte ich nur eines: möglichst schnell weg aus Winterthur. Mein Ziel war ein Ort, an den es zuvor noch niemand aus meiner Familie verschlagen hatte. Ich wählte Fribourg, wo ich Philosophie studieren wollte. Nach wenigen Semesterwochen merkte ich aber, dass ich ein Fach mit mehr Erdung brauchte, sattelte auf Geschichte und Germanistik um und blieb dabei. Das war wohl der wichtigste Wechsel in meinem Leben, denn die Geschichte ist noch heute mein Beruf, und dank der Germanistik habe ich meine Frau kennengelernt.
Eine weitere entscheidende Lebensphase kam nach dem Doktorat. Wir zogen für drei Jahre nach Cambridge, wo ich eine andere, weniger hierarchische Universitätskultur kennen und schätzen lernte. Danach forschte ich zwei Jahre lang an der ETH Zürich, bevor der Ruf an die Uni St. Gallen kam. Dort habe ich seit 2012 die Professur für Geschichte inne. Unser Lebensmittelpunkt ist aber wieder in Winterthur, wo wir alle glücklich sind. Das hätte ich mir nach der Matur nicht vorstellen können …
Wie sind Sie ans Rychenberg gekommen?
Eigentlich wollte ich in die Sekundarschule, weil da meine Fussball spielenden Gspänli waren. Mein Primarlehrer insistierte aber, ich solle ins Langzeitgymnasium. So landete ich am Rychenberg, wo es zu meiner Überraschung auch ein paar sportliche Buben gab.
Was konnten Sie neben der schulischen Bildung aus Ihrer Zeit am Rychenberg mitnehmen?
Mit meinem Deutsch- und Geografielehrer habe ich nach der Matur eine persönlich Beziehung aufgebaut, die mich stark geprägt hat. Dazu kamen intensive Erfahrungen im Klassenverband, sei es bei einem Toulouse-Austausch mit dem Französischlehrer, während der dreiwöchigen Husi oder in einer selbstorganisierten Skiwoche im Wallis. Das Rychenberg war für mich wirklich eine Schule des Lebens.
Hat es sich in Ihrer Schulzeit schon abgezeichnet, dass Sie einmal ein geisteswissenschaftliches Studium aufnehmen würden?
Erst in den letzten Jahren. Entscheidend war mein Deutschlehrer, ein kritischer Geist alter Schule, der mir die Freude am Schreiben vermittelte. Ohne ihn hätte ich wohl etwas anderes studiert.
Wo haben Sie die Pausen in Ihrer Schulzeit verbracht?
Wenn eine Stunde ausfiel, spielten wir häufig Rundlauf in der Nachbarsschule. Sonst ging ich regelmässig in die Bibliothek, die damals aber noch nicht so einladend war, wie sie heute ist.
Wie empfanden Sie den Übergang vom Gymnasium an die Universität?
Es war zugleich Schock und Befreiung. Ein Schock, weil sich niemand um einen zu kümmern schien, und eine Befreiung, weil ich den Stundenplan ganz nach meinen Interessen zusammenstellen konnte. Damals war das Bologna-System noch nicht eingeführt. Heute ist das Studium zugleich «verschulter» und das Gymnasium dank Projekt- und Maturarbeiten akademischer. Dadurch dürfte der Übergang leichterfallen.
Als Vater einer Tochter an unserer Schule haben Sie eine neue Perspektive auf das Rychenberg. Hat sich etwas verändert bei uns, oder ist das alles nur alter Wein in neuen Schläuchen?
Es hat sich einiges verändert, gerade bei der Integration der Erstklässlerinnen und Erstklässler, wo Aktivitäten wie die Winter-Tour schnell einen Klassen-Spirit entstehen lassen. Zudem beeindruckt mich die neue Infrastruktur in Sachen Sport und Medien. Auch politische Podiumsdiskussionen gab es zu meinen Zeiten noch kaum.
Gleichzeitig habe ich den Eindruck, dass im Unterricht noch manches ähnlich ist. Das ist nicht unbedingt schlecht, denn die Qualität war schon damals gut. Verbesserungsbedarf sehe ich vor allem beim Verhältnis von Auswendiglernen und Analysieren. Meine Tochter muss in manchen Fächern noch immer Stoffmengen reinstopfen, die ein Denken in Zusammenhängen eher erschweren als erleichtern.
Was würden Sie an den Gymnasien verändern, wenn Sie Bildungsverantwortlicher wären?
Ich würde zuallererst ihre hohe Autonomie zu bewahren versuchen, weil ich überzeugt bin, dass eine Schule nur gut ist, wenn sie sich den überfrachteten Erwartungen der Gesellschaft bis zu einem gewissen Grad entziehen kann. Würde sie jeden Gegenwartstrend aufzunehmen versuchen, wäre sie in Kürze ein Tollhaus.
Gleichzeitig würde ich die bereits bestehenden Anstrengungen, die Schülerinnen und Schüler in selbstständigem und kreativem Denken auszubilden, verstärken. Mir sind die Gymiabgänger, die ich an der Uni unterrichte, oft noch zu zaghaft, wenn es darum geht, sich auf Unbekanntes einzulassen und Neues zu schaffen.
Was schätzen Sie besonders am Schweizer Schulsystem?
Das Beste ist die Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Ausbildungssystemen. Im Vergleich zum britischen System gefällt mir auch, dass es nicht wichtig ist, an welcher Schule man seinen Abschluss gemacht hat. Die Matura ist die Zugangsberechtigung für alle Hochschulen, und es kommt nicht darauf an, wo man war oder mit welchen Leuten man die Schulbank gedrückt hat. Entscheidend ist, was man daraus macht. Ich war der Einzige von uns vier Geschwistern, der am Langzeitgymi war, aber die anderen drei sind deswegen nicht schlechter rausgekommen. Dieser Offenheit sollte die Schweiz Sorge tragen.
Was würden Sie sich für unsere Schule in Zukunft wünschen?
Ein Aspekt, der mir im gesamten Schulsystem zu kurz kommt, ist die politische Bildung. Sie ist angesichts von Klimawandel und Populismus wichtiger denn je. Man sollte viel gründlicher erarbeiten, was eine Demokratie ausmacht, wie sich die politischen Systeme in Geschichte und Gegenwart unterscheiden und was die kulturellen, medialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine funktionierende Demokratie sind. Junge Leute wachsen zu oft noch unbedarft in unsere halb-direkte Demokratie hinein und nutzen ihre Rechte und Möglichkeiten zu wenig. Das können wir uns nicht mehr leisten.
Was würden Sie unseren Schülerinnen und Schülern mit auf den Weg geben?
Dass sie die unglaubliche Offenheit ihres jungen Lebens als Chance packen! Wenn man 18 oder 19 ist, darf man noch etwas wagen, auch ein paar Mal auf die Nase fallen, bis man sich auf ein Studium oder einen Beruf festlegt. Die meisten Maturanden und Maturandinnen wissen noch gar nicht, was es da draussen alles für Möglichkeiten gibt. Deshalb lohnt es sich, zuerst mit wachem Geist in die Welt hinauszugehen, bevor man gleich weiterbüffelt. Auch nach dem Studium würde ich allen jungen Leuten raten, ein paar Jahre im Ausland zu arbeiten. Man lernt dabei nicht nur andere Flecken der Erde, sondern auch die Schweiz besser kennen.